Strategische Perspektiven Mai 2021

Steigende Kurse - aber so manche Probleme im Hintergrund

In den ersten Monaten des Jahres sind die Aktienkurse weltweit gestiegen. So manchen Investoren ist der Aufschwung wegen der damit verbundenen immer höheren Bewertungen allmählich unheimlich geworden.

Die positive Entwicklung verdankt sich diesmal vor allem der zunehmenden Dynamik in den USA. Präsident Biden hat ehrgeizige Programme zur Förderung der Konjunktur und zum Ausbau der Infrastruktur vorgestellt. Für die Unterstützung von Haushalten während Corona sind 1,9 Billionen Dollar ausgegeben worden, für die Infrastruktur sind mehr als 2.200 Milliarden Dollar vorgesehen. Das ist eine etwas andere Dimension als die 750 Milliarden Euro in der EU, deren Finanzierung im Übrigen noch nicht endgültig geklärt ist.  Die Arbeitslosigkeit sinkt in den USA bereits wieder in Richtung Vorkrisenniveau und die zunehmende Durchimpfung der Bevölkerung fördert den Optimismus. Allein im März sind die Einzelhandelsumsätze um 10 % gestiegen, die verteilten Unterstützungsschecks in Höhe von 1400,-- $USD also rasch in Konsum umgesetzt worden sind. Die aktuellen Wachstumserwartungen liegen über 5 %, nachdem die Wirtschaft bereits im ersten Quartal um stolze 6,4 % gewachsen ist.
Im fernen Osten wird das Wachstum kaum geringer ausfallen. China hat den Einbruch vom Vorjahr bereits weitgehend aufgeholt, wie auch die meisten anderen asiatischen Staaten, leider mit Ausnahme des besonders schwer unter der Pandemie leidenden Indiens. Ein recht guter Indikator für die weitere Entwicklung ist der internationale PMI – Einkaufsmanagerindex; der hat im März den höchsten Stand seit 15 Jahren erreicht. Insgesamt sollte die Weltwirtschaft nach der aktuellen Einschätzung des International Monetary Fund heuer um 6 % wachsen.
Europa bleibt hinter der internationalen Dynamik zurück. Der lange Lockdown hat einzelne Branchen schwer getroffen und damit die wirtschaftliche Erholung verzögert.  Zwar profitiert die Exportindustrie von der weltweiten Erholung, andererseits behindert der derzeitige weltweite Mangel an Computerchips eine Reihe von Produktionen – und, was geradezu makaber anmutet, im Übrigen auch die Produktion von Maschinen zur Produktion von Chips.
Mit zeitweiligen Rücksetzern an den Börsen muss man immer rechnen. Aber solange die USA und die asiatischen Staaten das derzeitige Wachstumstempo halten können, ist nicht mit einer Umkehr des gegenwärtigen positiven Trends an den Börsen zu erwarten. Am 22.4. sind die Pläne vom Präsident Bidens zur Erhöhung der Kapitalertragsteuer für Reiche durchgesickert, was den Kursen nicht gutgetan hat. Eine massive Belastung der Stimmung hat sich daraus aber bisher nicht ergeben.

Inflation: Bloße Angst oder reale Gefahr?

Nach wie vor ist viel von einer drohenden Inflation die Rede. Für Aktienkurse ist das auf den ersten Blick gar nicht schlecht. Denn Beteiligungen an realen Werten, und das sind Unternehmen nun einmal, bieten einen gewissen Schutz gegen Inflation. Auf den zweiten Blick sind Aktien trotzdem betroffen. Denn höhere Inflationsraten bedingen höhere Zinsen, und höhere Zinsen können die Anleger veranlassen, sich weg von Aktien und hin zu Anleihen zu orientieren. Nach allen bisherigen Erfahrungen beginnen solche Umschichtungen in großem Umfang allerdings erst bei Anleihezinsen von um die 3 %, und davon sind wir in den meisten Währungsräumen noch weit entfernt.
Wir haben zum Thema Inflation bereits in unseren Strategischen Perspektiven vom März dieses Jahres ausführlicher Stellung genommen und wollen uns daher hier kurzfassen: Alles, was industriell produziert werden kann, wird wegen der laufenden Automatisierung der Produktion nicht teurer, sondern eher billiger. Preise der Vorprodukte wie etwa Rohstoffpreise können diese Grundregel eine Zeit lang durcheinanderbringen und das scheint derzeit tatsächlich der Fall zu sein.  
Wir sehen auch, dass inzwischen auch die meisten Ökonomen der großen internationalen Behörden wie EZB und Weltbank die gleiche Meinung vertreten wie zuletzt wir: In der nächsten Zeit könnten die Inflationsraten etwas höher ausfallen, aber das ist eher als vorübergehendes Phänomen zu sehen und dürfte kaum von Dauer sein.
Überhaupt hat die Inflationsangst viel damit zu tun, dass die gefühlte Inflation meist höher ist als die tatsächliche. Für Deutschland liegen entsprechende Werte vor, und die zeigen eine fast schon regelmäßige kräftige Überschätzung.

Weniger auffällig aber nicht weniger folgenreich

Kehren wir zurück zum aktuellen Börsengeschehen. Schaut man genauer hin, dann zeigen sich hinter der schönen Kulisse des positiven Gesamttrends so manche Merkwürdigkeiten, deren Folgen man in Rechnung stellen muss.
Zunächst einmal haben sich die einzelnen Teilmärkte recht unterschiedlich entwickelt. So hat der Index MSCI World Net Total Return, der den einschließlich Dividenden im Vorjahr zu erzielendem Gesamtertrag spiegelt, 2020 einen Zuwachs von 5,6 % erzielt. Aber im gleichen Jahr hatte der MSCI World High Dividend, der die Aktien mit den höchsten Dividenden erfasst, einen Gesamtverlust von 9,1 %!
Dahinter stand eine massive Verschiebung des Investoreninteresses weg von traditionellen Dividendenwerten hin zu Wachstumswerten, von denen man sich mehr Ertrag erhofft. Auch derzeit rechnen die meisten Kommentatoren mit einer Umschichtung von Substanz-werten in Zykliker, die von der konjunkturellen Erholung besonders profitieren sollten.
Überhaupt hat die Spekulation an Bedeutung gewonnen. Der neueste Börsendarling sind die sogenannten SPAC´s, Special Purpose Acquisition Vehicles. Der Unterschied zu traditionellen Private Equity – Gesellschaften liegt darin, dass ein SPAC zum Zeitpunkt seines Börsenganges noch gar keine konkreten Anlageziele angibt, sondern nur allgemein die Richtung, in die hin man suchen will. So will beispielsweise der SPAC Pegasus Europe, hinter dem Bernard Arnault steht, Gründer und Haupteigentümer von LVMH, vor allem in Finanzunternehmen investieren (was wir in Europa nicht für eine übertrieben gute Idee halten). Der Käufer kauft also auf gut Deutsch nicht einmal die Katze im Sack, sondern finanziert nur den Sack, mit dem dann Katzen gefangen werden sollen. Weltweit ist in solche SPAC´S bereits insgesamt ein dreistelliger Milliardenbetrag investiert worden.
Bitcoins und andere Kryptowährungen sind schon früher Gegenstand einer immer maßloseren Spekulation geworden. Sie haben den unbestrittenen Vorteil, vor Negativzinsen verschont zu sein. Wir halten es für trotzdem für falsch, sie als das neue Gold zu bezeichnen. Sie haben Besonderheiten, die das verhindern werden. Erstens sind sie hervorragend geeignet, Überweisungen an anonyme Empfänger durchzuführen. Das allein muss zwangsläufig alle Behörden auf den Plan rufen, die mit Geldwäsche, Steuerhinterziehung, sonstigen kriminellen oder durch Sanktionen verbotenen Transaktionen zu tun haben. Die sind zwar derzeit noch in einer Art Schockstarre, aber das wird sich ändern. Zweitens verbraucht wegen der technischen Besonderheiten der Speicherung in unzähligen Computern jede einzelne Transaktion mehr als 860 KWH. Das ist mehr als der durchschnittliche Stromverbrauch eines Österreichers in einem ganzen Monat. Die einzelnen Transaktionen sind damit schlicht zu teuer für den kommerziellen Verkehr. Und drittens wäre jeder verrückt, der bei diesen Schwankungen einen Kredit in Bitcoins aufnehmen wollte. Bitcoin und auch anderen Kryptowährungen fehlt dazu einfach die nötige Stabilität. So kann Bitcoin nicht zu einem „normalen“ Zahlungsmittel werden.
Aber selbst der Bitcoin – Hype kann noch übertroffen werden. Vor kurzem ist mit Coinbase ein Unternehmen an die Börse gegangen, dass nichts anderes ist als ein Händler mit Krypto – Währungen. Das Unternehmen ist, gemessen am Aktienkurs, vorübergehend sogar mit mehr als 100 Milliarden Dollar bewertet worden. Das ist, um nur ein Beispiel zu bringen, fast das Zehnfache der Börsenbewertung des großen österreichischen Stromproduzenten Verbundgesellschaft. Dabei kann jeder mit der gleichen technischen Ausstattung das gleiche anbieten, die Marktstellung von Coinbase kann daher jederzeit einbrechen. Und die weitaus höchsten Steigerungen (bis zu 8.000 Prozent!) verzeichnete zuletzt die Kryptowährung Dogecoin, die eigentlich als Internetjoke und Bitcoin – Parodie gedacht gewesen ist. Man kann natürlich auch in Mahlzeit-transporter wie Delivery Hero investieren, ohne sich daran zu stören, dass dessen Chef Niklas Östberg im Jahr 45 Mio Euro Gehalt kassiert.
Aber Spekulationen können auch völlig daneben gehen. Gerade ist wieder ein Asset Manager untergegangen, der auf nichts anderes spezialisiert gewesen ist als auf Hochrisikospekulationen, und das auf Kredit. Die aktuelle Schätzung der Gesamtverluste aus diesem sogenannten Archegos Capital Management und einer eher eigenartigen Greensill – Kreditkonstruktion beläuft sich derzeit auf rund 10 Milliarden Dollar, davon allein bei der Credit Suisse rund 5 Milliarden und bei der ebenfalls schweizerischen UBS fast eine Milliarde.

Was steckt eigentlich hinter solchen Spekulationen?

Wir fürchten, dass es sich bei dieser Entwicklung in Richtung zunehmender Spekulation nicht um eine vorübergehende Erscheinung handelt, die man damit erklären kann, dass es eben an den Börsen immer wieder zu einem Wechsel zwischen sogenannten Risk-On und Risk-Off Verhalten kommt. Wir vermuten, dass eine andere Erklärung eher zutrifft: An den Börsen sind mehr und mehr big player aktiv, die über enorme Beträge verfügen und diese strukturieren ihre Veranlagungen nach niedrigem, mittlerem und hohem Risiko. Je größer das zu veranlagende Volumen, desto größer der Hochrisikoanteil. Das ist nur rational.  Steigen die jeweils investierten Beträge, dann steigen auch die Beträge, die für extreme Risken bereitgestellt werden, weil man sich davon hohe Renditen verspricht und trotzdem die Beträge im Verhältnis zum Gesamtvolumen überschaubar bleiben. Blackrock, der größte Vermögensverwalter der Welt, verwaltet mehr als 7.300 Milliarden Dollar, Vanguard 6.100 Milliarden. In Europa sind UBS mit rund 3.100 Mrd. und Allianz mit rund 2.500 Mrd. führend. Da bleibt schon einiges für hohes Risiko über und bei reichen Privatpersonen sowieso. Nur konsequent, dass sich Blackrock bei Coinbase mit über einer Milliarde engagiert hat.
Solche riskanten Veranlagungen haben zusätzlich ein Motiv das gerne als „FOMO“ abgekürzt wird, Fear Of Missing Out, die Angst, bei irgendeiner besonders erfolgreichen Veranlagung nicht dabei zu sein und diese der Konkurrenz überlassen zu haben. Dieses Motiv ist gar nicht so unverständlich, trägt aber eben auch dazu bei, jede Menge Geld in noch so skurrile Projekte zu locken.
Wir sollten also nicht mit einem periodischen Wechsel von Risk-On und Risk-Off rechnen, sondern mit einem Anhalten, wenn nicht mit der Zunahme spekulativer Engagements in allen möglichen, wenn nicht unmöglichen Veranlagungen. Wer will, kann dabei sein. Aber unserer Meinung nach sollte man das nur mit Geld tun, auf das man im Fall der Fälle leicht verzichten kann.

Staatsanleihen - oder das Risiko, das wir alle tragen.

Sehen wir uns einmal die Entwicklung der Staatsschulden in den Industrienationen an:

 

Was kann getan werden?

Aus unserer Sicht werden Unterbrechungen, also Pausen, in diesem kräftigen Kursanstieg der Aktien mit zunehmender Dauer des Aufschwungs immer wahrscheinlicher. Aber eine grundsätzliche Änderung des gegenwärtigen positiven Trends erwarten wir nicht, solange der Aufschwung anhält. Wieder einmal sollte man bisherige Erfahrungen nicht außer Acht lassen. Und die besagen nun einmal, dass die Kurse selbst nach dem Erreichen neuer Rekorde nicht gleich wieder abstürzen, sondern sich in der Nähe der erreichten Niveaus bewegen.
Und man muss auch nicht unbedingt vor nunmehrigen Einkäufen zurückschrecken. Es gibt diverse Analysen, die zeigen, dass das sogenannte „Timing“, der Versuch, an den Börsen immer die günstigsten Zeitpunkte zum Einstieg zu erwischen, eher selten funktioniert. Nachträglich lässt sich natürlich feststellen, dass ein Einstieg zu den jeweils günstigsten Zeitpunkten eine weit bessere Performance bringt als regelmäßige Zukäufe.  Das kleine Problem dabei ist allerdings, dass man immer erst nachher weiß, was der günstigste Zeitpunkt gewesen wäre.
Es gibt außerdem eine interessante Analyse des Bankhauses Warburg vom 15. April zur Idee des „mean reverse“, wonach Kurse sich letztlich immer an einem vernünftigen Mittelmaß orientieren, das durch eine Reihe von Faktoren wie etwa Gewinnentwicklung und Kurs – Gewinn - Verhältnis bestimmt wird. Demnach wäre es richtig, bei Kursübertreibungen zu verkaufen und bei Kursabweichungen nach unten einzusteigen. Die Analyse zeigt, dass diese Strategie viel weniger bringt als erwartet. Oft genug zeigt sich nämlich, dass Kursübertreibungen viel länger anhalten, als den realen Faktoren entspräche. Für uns ist etwa ein gutes Beispiel für solche lang anhaltende Übertreibungen der Kurs von Tesla.
Fasst man die letzten Überlegungen zusammen, dann lässt sich daraus ableiten, dass man sich vom jetzigen Kursniveau nicht pauschal abschrecken lassen sollte.
Für uns liegt das eigentliche Problem anderswo: Wir sind derzeit weltweit in einer Phase der ungeheuren Beschleunigung technologischer Innovationen mit oft nur schwer übersehbaren wirtschaftlichen Konsequenzen des Aufstiegs neuer und der Verdrängung alter Produkte. Die seit kurzem vorliegenden Zahlen der großen amerikanischen High – Tech – Konzerne beispielsweise waren nichts weniger als fantastisch. Wir halten es für unverzichtbar, diesen Aspekten des Börsengeschehens besondere Aufmerksamkeit zu widmen und gewichten sie höher als so manche traditionellen Strategien.

Einmal etwas aus Österreich

Wir weisen zum Schluss unserer Perspektiven immer ganz gerne auf ein paar Aktien hin, die wir nach näherer Analyse empfehlen. Bei österreichischen Aktien haben wir uns meist zurückgehalten, nicht weil die Unternehmen hier schlechter wären als anderswo, sondern weil der Markt international eher als marginal angesehen wird. Immerhin ist unseren Hinweisen auf EVN und Mayr Melnhof in beiden Fällen ein nicht geringer Kursanstieg gefolgt. Diesmal wollen wir uns auf österreichische Unternehmen konzentrieren. Denn diesmal gibt es gleich bei mehreren Unternehmen eine Kombination von positiven Faktoren.
Man darf an das bekannte Phänomen erinnern, dass in Wachstumsphasen der Bedarf an Investitionsgütern überproportional ansteigt. Beispielsweise Palfinger hat es schon in der Vergangenheit verstanden, sich im Gebiet der Hebe- und Transporttechnik zu behaupten, was angesichts der enormen Konkurrenz auf diesem Gebiet eine beachtenswerte Leistung darstellt. Nunmehr profitiert das Unternehmen zusätzlich von der kräftigen Erholung des Welthandels, der den Bedarf an solchen Produkten deutlich ansteigen lässt. Ähnliches gilt für Andritz, die sogar im schlimmen Jahr 2020 sehr gut abgeschnitten haben und maßgeschneiderte Prozesslösungen für Kunden in den Geschäftsbereichen Metals, Hydro und Pulp + Paper anbieten und erst vor kurzem wieder einen Großauftrag erhalten haben.
Die Voest profitiert nicht nur von steigenden Stahlpreisen (auch deshalb, weil sie auch heimisches Erz verarbeiten kann, und deshalb von den Weltmarktpreisen weniger abhängig ist), sondern auch von der Erholung der deutschen Automobilindustrie und der zunehmenden Bedeutung des öffentlichen Verkehrs. Sowohl Karosserieblech als auch Schienen und Weichen gehören zum Produktionsprogramm. Zusätzlich macht die Voest Fortschritte in einer vermutlich zukunftsträchtigen neuen Sparte, dem 3-D Druck mit Stahlpartikeln. Uns gefällt auch die Vienna Insurance (vulgo Wiener Städtische), die gut und grundsolide geführt wird, ihre Marktstellung vor allem in Osteuropa konsequent ausbauen konnte, zwar keine Kursrekorde vorweisen kann, aber mit einem KGV von unter 8 und einer Dividendenrendite von über 4 % gerade für vorsichtige Anleger eine Überlegung wert ist.

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